Der Liftboy, der keiner war
Ein Beitrag zum Podcast "We need you" des Touriseums
Von Paul Rösch
Den Unterschied zwischen Mann und Frau kannte ich noch nicht, mit 14 Jahren war ich noch ein Kind. Was ich aber wusste, war, dass ich Hoteldirektor werden wollte. Das jedenfalls gab ich jedem zur Antwort, der sich über meine Berufswahl erkundigte. Der Wunsch brodelte seit der frühen Kindheit in mir, und da ich nun 14 war, entschied ich, in den Sommerferien in einem Hotel zu arbeiten.
Obwohl mein Vater bestimmt hatte, dass ich im Geschäft aushelfen sollte, marschierte ich zu Beginn der Ferien im Sommer 1969 schnurstracks ins Palace Hotel, näherte mich dem Portier und erklärte ihm, ich wolle mit dem Herrn Direktor sprechen. Alsbald stand ich vor genau diesem und brachte ihm mein Anliegen vor. Womit ich nicht gerechnet hatte: Kaum hatte ich meinen Namen genannt, wählte Herr Agostini auch schon eine Nummer und hatte meinen Vater in der Leitung. „Hallo Luis, dein Sohn ist bei mir und will Liftboy werden.“ Den Dialog zwischen den beiden bekam ich nur einseitig mit, mein Vater am anderen Ende der Leitung schien mit meinem Alleingang allerdings gar nicht glücklich zu sein. Den Job bekam ich trotzdem…
… und auch schon gleich klare Anweisungen: Arbeitsbeginn 6.00 Uhr morgens, Essen im Haus, Schlafen zuhause. Und es ging gleich in den Keller zur Beschließerin, zu Frau Soccin, die sich um mich kümmern sollte. Die sehr gestrenge Dame ließ mich einen violetten Anzug anprobieren, dazu ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Das Outfit war komplett, die Hotelgäste konnten kommen, ich war bereit.
Erster Arbeitstag, 6.00 Uhr: Meine Arbeit besteht im Staubsaugen der gesamten Halle und die ist – wie sich das für ein Grand Hotel gehört – riesengroß. Danach sind die Druckschalter des Lifts mit „Sidol“ auf Hochglanz zu bringen. Erste Lektion: Sauberkeit hat einen hohen Stellenwert und wird täglich minutiös kontrolliert. Bevor ich den ersten Gast überhaupt zu Gesicht bekomme, bin ich schon fix und fertig. Zweite Lektion: Als Morgenmuffel kann ich dem Reinigungsdienst wenig abgewinnen, dem täglichen Botengang zum gegenüber liegendem Kiosk allerdings sehr viel mehr. Schließlich kehre ich mit internationalen Zeitungen zurück und das gibt mir das Gefühl, als hielte ich die Welt in meinen Händen und wäre nun endlich Teil davon. Zurück in der Halle müssen die Zeitungen in dafür vorgesehene Halter eingespannt und wie ein Spalier an eigenen Vorrichtungen aufgehängt werden.
Halle gesaugt, Liftknöpfe gewienert, Zeitungen geholt: Nun stehe ich neben der Rezeption und warte auf die Anweisungen von Herrn Öttl, einem eleganten, Vertrauen einflößenden Portier mit weißen Haaren, der dem Personalhandbuch für Hotels entnommen scheint. Herr Öttl siezt mich – ungewohnt, aber wohl Teil dieser neuen Welt. Noch nie zuvor hatte jemand „Sie“ zu mir gesagt. Herr Öttl, distinguiert und kultiviert, hatte für jede Situation ein passendes Literaturzitat parat. „Man glaubt zu schieben, aber wird geschoben“, sagte er, als er einmal vom Direktor gerügt wurde und schob gleich ein „Goethe“ hinterher. Als ich einmal den Deckel der Sidolflasche im Lift liegen gelassen hatte, wurde ich umgehend zur Rechenschaft gezogen. So etwas dürfe in einem Hotel ersten Ranges nicht passieren. Der väterliche Herr Öttl nahm mich in Schutz und tröstete mich. Meine andauernden Fragen beantwortete er anfangs sehr höflich, mit der Zeit allerdings immer genervter und wenn es ihm dann reichte, ließ er mich das unmissverständlich wissen.
Kurios war indes eine Vorliebe, die Herr Öttl mit Direktor Agostini teilte. Einmal wöchentlich fuhren die beiden mit ihrem Privatwagen über die Mittagspause zur neu eröffneten Timmelsjochstraße, um – wie Herr Öttl mit glänzenden Augen schwärmte – „Gletscher zu schauen“. Diese Attraktion war es offensichtlich wert, einmal wöchentlich 50 Kilometer auf einen 2.474 Meter hohen Pass zu fahren und wieder zurück. Und das über die verlängerte Mittagspause.
Meine Arbeitserfahrung im Palace Hotel war übrigens nicht die erste, die ich mit dem Hotel gemacht hatte. Schon als Kind durfte ich meinen Vater dorthin begleiten. Er führte ein Lebensmittelgeschäft in der Stadt und belieferte das Hotel regelmäßig. Ich kannte damals zwar nur den Hintereingang, das riesige Gebäude und der Blick in die geschäftige Küche hatte etwas Mythisches, vielleicht auch, weil ich keine Ahnung hatte, was sich hinter diesem Vorhang abspielte. Schließlich hatte ich bis dahin noch nie einen Fuß in ein Meraner Hotel gesetzt, schon gar nicht in ein Grand Hotel. Überhaupt waren damals die Grenzen zwischen Einheimischen und Touristen klar gezogen. So war etwa die Promenade vor dem Kurhaus während der Konzerte des täglich auftretenden Kurorchesters für Einheimische gesperrt. Man konnte diesen Teil der Promenade nur mit der Kurkarte betreten oder durchschreiten. Und auch bestimmte Kaffees und Restaurants wurden in der Regel nur von Touristen, andere wiederum nur von Einheimischen besucht.
Mein Job als Liftboy war so etwas wie meine Eintrittskarte in diese andere Welt – auch wenn ich eigentlich gar kein Liftboy war. Schließlich fuhren die Gäste autonom und meine einzige Aufgabe im Lift war, alle Messingknöpfe zum Glänzen zu bringen. Entschädigt wurde allerdings mit einer sehr viel verantwortungsvolleren Aufgabe: dem Telefondienst. Neben der Portierloge gab es eine Kammer mit einer riesigen Telefonzentrale, in der ich – mit einigen Anfangsschwierigkeiten – die vielen Leitungsschnüre in die richtigen Verbindungslöcher stecken musste, um die ein- und ausgehenden Telefonate zu ermöglichen. So nahm ich Telefonate aus verschiedenen Ländern entgegen, vermittelte sie weiter und kam mir dabei bei all der Technik vor wie im Cockpit eines Flugzeugs. Ein kleiner Pilot in einer kleinen Kammer.
Dennoch blieb ich vom Treiben in der Halle tief beeindruckt. Und von einigen interessanten Begegnungen. So wollte ich einmal einen Herrn, der eine Zigarette im Mund hielt, Feuer geben. Dieser lehnte mit der Antwort ab, er rauche kalt – eine Angewohnheit, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die Menschen in der Halle bewegten sich weltmännisch, ließen sich von Portier Öttl alles Mögliche und Unmögliche beschaffen, von Theater- und Konzertkarten bis hin zu Taxis und Wünschen, die ich nicht mitbekommen durfte. Auch arrogante Gäste gab es, die sich über Eigenartiges (in meinen Augen Lappalien) beschwerten und sogar das Beschwerdebuch forderten. Herr Öttl blieb dabei immer ruhig, für ihn galt: „Der Gast ist König und hat immer recht.“ So habe ich von ihm gelernt, wie man zu Trinkgeld kam, indem man höflich, bestimmt und hilfsbereit war.
Gab es vorn die Lobby mit den „edlen“ Menschen, so waren die Dienstleister hinter dem Vorhang die dazu gehörende Gegenwelt. Sprache und Themen dort waren derb, viele Themen zwischen Koch- und Kellnerlehrlingen für mich neu und einer sanften Aufklärung kaum zuträglich. Allerdings hatte die gestrenge Beschließerin, Signora Soccin, ein waches Auge auf mich, und so nahm ich meine Mahlzeiten schon bald mit den Zimmermädchen und Hausmeistern ein, die in Ton und Aussagen sanfter waren.
Im Rückblick wird klar: Meine Karriere als Hoteldirektor hat sich nicht verwirklicht. Ich habe in den Ferien zwar immer wieder mit Vergnügen als Kellner, Tellerwäscher, Nachtportier und sogar als Hilfskoch gearbeitet, mich dann aber für ein Studium entschieden. Und letztlich war mein Job als Museumsdirektor jenem eines Hoteldirektors ja gar nicht unähnlich. Schließlich muss man seine Gäste mögen und sich bemühen, die Zeit ihres Aufenthalts im Hause so angenehm wie möglich zu gestalten. Egal, ob man nun ein Museum oder Hotel führt.
Eine Aktion des Touriseums im Rahmen der Sonderausstellung "We need you!"