Verwünscht
Ein Beitrag zum Podcast "We need you" des Touriseums
von Martina Theiner
Foto: Gasthaus Fischwirt Meran, Untermais (Sammlung Palais Mamming Museum, Meran)
Drüben im Hausanger stand, unter einem uralten Gravensteiner, eine windschiefe Bank. Das besetzen dieser Bank hatte bisweilen etwas Gefährliches an sich. Unsachgemäße Bewegungen darauf lockten dem verwitterten Holz kleine Schiefer hervor, die sich dann keck durch die Kleidung ins Gesäß bohren konnten.
Meine Großmutter verbrachte, trotz dieses bedrohenden Zustandes, ihre tägliche Rast auf dieser Bank, unter dem knorrigen Apfelbaum. Sie verhielt sich darauf ohnehin ruhig und vertiefte sich schnell in ihr tägliches Gebet.
Mit dem ersten Rosenkranz bat sie um die Unversehrtheit ihrer vier Kinder, ihres Mannes, den Tieren im Stall und überhaupt, dass alles gut wachse und gedeihe.
Mit dem zweiten Rosenkranz richtete sie ihren Blick geradeaus und fixierte dabei das heruntergekommene, kleine Wirtshaus, das baufällig und verlassen am Anger angrenzte. Sie betete dafür, dieses Gasthaus zu erlangen, es zu erneuern und es gemeinsam mit ihren Kindern wieder zu eröffnen. Meine Großmutter konnte das, die Kraft ihrer Gebete mündeten oft in erfüllende Bahnen.
Was man sich wünscht, meinte sie immer, müsse man sich vorher gut überlegen, denn mit der Erfüllung müsse man dann immer rechnen.
So war es auch dieses Mal:
Zu Ostern 1960 öffnete das ganz im damaligen Zeitgeist renovierte Gasthaus und vom ersten Tag an herrschte darin ein quirliges Treiben. Da war ein stetes Kommen und Gehen von angereisten Urlaubern und einheimischen Gästen, von fremden und bekannten Menschenmengen, die die Tische besetzten und sie dann wieder verließen.
Mit der Unterstützung des Großvaters bewirtschaftete der älteste Sohn weiterhin den Hof. Der Sohn heiratete und wurde mein Vater und der Vater meiner Brüder. Mein Großvater, fügte sich im hektischen Treiben des Gasthauses nicht ein. Er kam zu den Mahlzeiten und ließ sich höchstens auf ein unterhaltsames Gespräch mit den nach Anschluss suchenden Hausgästen ein oder spielte mit den Dorfbewohnern in der Gaststube eine Runde Karten. Meine Großmutter dagegen war nur mehr in der Wirtshausküche zu finden, meistens stand sie vor dem Ausguss, die bloßen Hände im Spülwasser. Nebenher buk sie immerfort und nie genug. Apfelstrudel oder Gugelhupf, Marmor- oder Nusskuchen, was es auch war, die Vitrine in der Gaststube, da wo die Süßspeisen angeboten wurden, war dann doch sogleich wieder leer.
Rudi war der zweiälteste Sohn und sollte, nach den Plänen meiner Großmutter, der zukünftige Wirt werden. Frühmorgens nachdem er seine frisch erstandenen Lebensmittel in der modernen Kühlzelle verstaut hatte, band er sich eine weiße Schürze vor das immer weiße Hemd und servierte den Hausgästen das Frühstück. Dabei hatte meine Großmutter schon längst alle Vorbereitungen dazu getroffen. Die Butterröllchen schwammen im Eiswasser und warteten darauf herausgefischt zu werden, kleine Schüsselchen waren mit Marmelade gefüllt und die goldgelben Semmeln lagen abgezählt auf einer Stoffeinlage in den verchromten Brotkörbchen.
Mit einem Maßlöffel zählte die Großmutter das Kaffeepulver in den großen Melitta Filterhalter. Das Aufbrühen erfüllte die Küche sogleich mit einem wunderbaren Duft, bevor die braune Brühe im Thermobehälter der gleichen Marke verschwand. Durch einen Zapfhahn konnte der heiße Türkentrank dann wieder portionsweise entleert werden.
Hanna, Großmutters jüngste Tochter, kochte immer schon gerne und stellte sich mutig, ohne jeglicher Ausbildung, an den Herd. Sie kochte drauflos und lernte im Tun. Ihre einfache Hausmannskost wurde geschätzt, die Gäste waren zufrieden und kamen wieder.
Die knusprigen Wienerschnitzel oder die Spiegeleier auf Speck wurden mit Röstkartoffeln serviert.
Zum Schweinebraten, den Hanna nach dem Anbraten in das Backrohr schob und dort etliche Stunden bei mittlerer Hitze garte, reichte sie eine Halbkugel Reis mit Sauce und im Gulasch schwammen meist zwei Semmelknödel.
Fisch und immer wieder Fisch stand auf den Aufnahmezetteln die Rudi in die Küche schob! Ob Forelle blau oder gebratenen, beide wurden mit Salzkartoffel serviert.
Die Scheibe Zitrone mit der gekräuselten Petersilie dazu, galt der Dekoration.
Pasta war Hannas Beitrag zur italienischen Küche. Sie gab die bissfesten Nudeln in die vorgewärmten Teller, begoss sie mit der abgeschmeckten Tomatensauce, setzte eine Butterflocke darauf, streute noch ein wenig Parmesankäse darüber und ab ging's. Rudis flinke Hände trugen sogleich alles an den Endverbraucher.
Elise, Großmutters ältere Tochter, sorgte sich um die Gästezimmer. Das Bettenmachen war anstrengend und mühsam, denn sie musste die Leintücher, die Decke, das Federbett und den Federpolster glattziehen und zurechtrücken. Alle Zimmer waren mit einem Waschbecken ausgestattet, das sie, wie den Fußboden, täglich reinigte. Nebenher füllte sie die schmutzige Wäsche in die neumoderne Waschmaschine von Constructa. Kaum war ein Waschgang abgeschlossen, war schon der Nächste am Start.
In jeder Etage stand den Gästen ein Badezimmer und je nach Geschlecht ein WC zur Verfügung. Auch diese Räume wurden von Elise täglich und vorbildlich gereinigt. Kam nichts dazwischen, hatte sie ihr Soll zu Mittag fertig.
Die Nachmittage verbrachte sie mit dem Aufhängen der nassen Wäsche oder dem Abnehmen der trockenen Wäsche, die sie dann mit der Bügelmaschine wieder glättete. In den Abendstunden sah Tante Elise noch im kleinen Garten hinterm Haus und im Parkplatz vor dem Eingang nach dem Rechten. Sie genoss das Gießen der Blumen und das Kehren im Hof, wenn sie die Hektik des anstehenden Abendessens im Haus vernahm.
Anfangs nahm uns Kinder der Großvater mit hinüber ins Gasthaus, eins von uns im Arm und zwei an der Hand. Später dann fanden wir den Weg allein durch den Anger und entflohen so des Öfteren der Langeweile des abgeschiedenen Heimathofes.
Kaum betraten wir das Wirtshaus, umgab uns ein Stimmengewirr. Heiteres Gelächter und Gekicher durchzog das Klappern der Teller und das Klirren der Gläser. Die Düfte, die aus der Küche strömten, ließen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen und Tante Hanna ließ uns nie leer ausgehen: „Setzt euch zum Küchentisch, ich habe was für euch!“ rief sie uns zur Begrüßung zu.
Wenn ihr beim Eierbraten der Dotter zerrann, behielt sie das Spiegelei für uns auf, genauso wie die Enden ihres legendären Schweinebratens. Sie teilte zwei Semmel, beträufelte die Innenseiten mit etwas Sauce und füllte sie mit den Bratenenden. Sie viertelte die Brote und stellte sie uns vor. Dabei setzte sie sich ein wenig zu uns und beobachtete amüsiert unser gieriges Schlemmen. Tante Hanna - die immer eine Packung Saridon in der Schürzentasche mit sich trug, um die dauernd wiederkehrenden Kopfschmerzen zu vertreiben.
Wenn wir Tante Elise in der Bügelkammer besuchten, boten wir ihr des Öfteren unsere Hilfe an. Auf die darauffolgende Belohnung hoffend, transportierten wir zu zweit einige Wäschekörbe hinauf in die Stöcke. Geschäftstüchtig handelten wir uns damit ein Getränk von der Bar ein. „Ihr dürft alles nehmen, nur keine Cola, Cola ist ungesund“, rief uns Tante Elise jedes Mal nach. Ich bevorzugte den Himbeersaft mit dem spannenden Namen „Jipsy“, meine Brüder nahmen sich immer eine Aranciata. Tante Elise - die sich immer etwas gekrümmt fortbewegte, um mit dieser Schonhaltung ihre dauernden Rückenschmerzen leichter zu ertragen.
Bei Onkel Rudi schnorrten wir immer Kaugummis. Wohlwollend empfahl er uns die weiße oder grüne Packung von Brooklyn: „Aber wehe ihr schluckt ihn, dann wächst euch ein Gummibaum auf eurem Rücken!“ flunkerte er und seine Drohung wirkte: Während des Kauens mahnten wir uns immer wieder gegenseitig das Ausspucken nicht zu vergessen. Onkel Rudi - der still und stoisch seine Arbeit verrichtete und seine Gedanken und Gefühle nie preisgab. Einen Satz schmiss er des Öfteren in die Runde: „Wer nichts wird, wird Wirt.“ Was er wohl damit meinte? Und, wäre er lieber etwas anderes geworden?
Meine Großmutter baten wir wiederholt und immer wieder um eine Waffeltüte Eis. „Nehmt ruhig“, forderte sie uns auf, „aber kein Schokoladeeis, Schokoladeeis verstopft euch!“ Gerne erfüllten wir ihre Anweisung und bedienten uns folgsam an den Sorten Erdbeer- Himbeer- und Zitrone. Unsere Großmutter - die mit den Jahren ihre Kräfte einbüßte, ihren Zustand aber nicht wahrhaben wollte und ihn bis zur Erschöpfung ignorierte. Ob sie sich die Folgen ihres Wünschens für sich und ihre Kinder so vorstellte? Hatte sie sich damals auf der windschiefen Bank etwa verwünscht? Über das Wünschen habe ich meine Großmutter jedenfalls nie mehr sprechen hören. Vielleicht hatte sie keine Wünsche mehr oder sie verstand, dass man die Folgen der Wünsche nicht immer ganz durchschauen konnte und beließ es dabei.
Eine Aktion des Touriseums im Rahmen der Sonderausstellung "We need you!"